Besuch von Glorf

Autor: Stefan Slupetzky
Verlag: echomedia Buchverlag
Umfang: 96 Seiten

Kurzinformation zum Buch

Die dreiköpfige Besatzung eines intergalaktischen Raumschiffs entdeckt auf einer Forschungsreise die Erde. Das ist der Ausgangspunkt einer Geschichte, in deren Verlauf zwei grundverschiedene Kulturen aufeinanderprallen, wobei der seltsame Hang des Menschen zur Menschenverachtung immer deutlicher zutage tritt.
Die Zwyglorfs vom Planeten Glorf sind nicht nur eine sehr einmütige, sondern auch eine ausgesprochen musische Spezies. Musik und Poesie sind ihrer Meinung nach die Stoffe, aus denen alles Leben gewoben ist. Dieser Auffassung entspricht auch die technische Ausstattung ihres Forschungsschiffes. Während die Außerirdischen also im Orbit des Blauen Planeten kreisen und erste unbeholfene Kontaktversuche zu den Erdlingen starten, nimmt ein an Bord befindlicher Apparat seine Arbeit auf: der Prosagenerator, eine Art digitaler Geschichtenerzähler, dessen epische Platinen die gesammelten Daten und Fakten literarisch verwerten. Er verfasst Erzählungen über die Menschheit, halb erfunden und dennoch wahrhaftig, weil er die Menschen anders sieht als seine gutgläubigen Erbauer.
Von den Zwyglorfs aber ergreift schon bald eine menschliche Geisteshaltung Besitz, die ihre Expedition in höchste Gefahr zu bringen droht.

Leseprobe aus »Besuch von Glorf«

Des Prosagenerators fünfte Erdgeschichte

Benkös Liebe

Die ersten Schneeflocken verdampften auf dem Thermosteig, als Commander Benkö aus dem Haus trat. Es war noch dunkel, der Himmel nur von den lautlosen Silberstreifen der Nachtporter durchzogen. Obwohl er Zeit hatte, schritt Benkö zügig aus, denn er fror und die Wärmefluter waren abgeschaltet - die Kommune müsse sparen, hieß es. Glücklicherweise lag sein Ziel nicht weit entfernt. Schon nach fünf Minuten fiel Benkö die Neonschrift des Scan-as-scan-can ins Auge. Er blickte sich um und trat dann rasch durch das hell erleuchtete Portal.

Benkö war Buchhalter. Gemeinsam mit drei weiteren Commandern betreute er einen der Großrechner von Wang and Donald. Seit Anbeginn des Jahrtausends, als die letzten großen Firmen fusioniert hatten und im Zuge einer globalen Strukturanpassung Millionen Arbeitsstellen abgebaut worden waren, gab es in allen Branchen Commander. So, wie aus vielen Konzernen eine einzige Macht geworden war, nämlich Wang and Donald, waren aus vielen Buchhaltern einige wenige Commander geworden. Ein Commander war jemand, der die Maschinen das Denken lehrte. So hatte es Benkö als Kind im School-Brainer gelernt.

Kaum hatte er den Airprotector abgenommen, verschlug ihm eine Welle warmer und abgestandener Luft den Atem. Benkö dachte an Umkehr, doch das sanfte Schnurren eines Persuators rief ihn schon zum Kassenautomaten: „Welcome ... cuommen ... im ... paradiso delle ... deiner Träume ... Pour une heure ... denke die Eins ... Por dos ... denke ... Für drei Stunden ... Bitte wähle jetzt ... Der Betrag wird automatisch ... Arigato coseimas ... Welcome ... cuommen ... im ... paradiso delle ... deiner Träume ..."  

Der Commander liebte seinen Beruf. Maschinen lebten, dessen war sich Benkö sicher, doch sie lebten kontrolliert. Im Gegensatz zum Menschen waren Maschinen fassbar und von berückender Klarheit. Nie war man ihren Launen hilflos ausgeliefert, nie gaben sie einem unlösbare Rätsel auf. Die Maschine tat, was der Mensch wollte. Und tat sie es nicht, dann trug der Mensch die Schuld daran. So einfach war das. Commander Benkö mochte das Einfache. Er hätte das defekte Synthofon des Persuators im Handumdrehen richten können. Aber er war nicht zum Arbeiten hier.

Benkö buchte zwei Stunden und begab sich an den Wartemonitor. Lautlos zogen Bilder über den Schirm, Porträts von Männern, Frauen und Androgynen, eine Hochglanzparade moderner Schönheit und antiker Prominenz. Der Commander schmunzelte. Er brauchte keinen Vorlagenkatalog. Er hatte seine eigene Phantasie.

Das Scan-as-scan-can war ein Cybordell der jüngsten Generation. Ursprünglich hatten Lusthäuser dieser Art als unbedeutendes Nebenprodukt der neuesten plasmaphysikalischen Erkenntnisse gegolten. Vor knapp sechs Jahren erst war es den Molekularkybernetikern von Wang and Donald gelungen, die Morphogenese von Biomasse zerebral zu definieren. Was - vereinfacht ausgedrückt - nichts anderes bedeutete, als das Aussehen und die Fähigkeiten einer Kreatur mit purer Gedankenkraft zu steuern. Zu Zeiten der Vorväter wäre man sofort daran gegangen, Muskelmänner für die Rüstung und den Arbeitsmarkt zu produzieren. Aber es gab keine Armeen mehr: Die Regierungen gehörten Wang and Donald, und der so genannte Terrorismus war schon vor Äonen zu einer Legende verblasst, zu einem archaischen Märchen, dessen historischer Ursprung nicht zu belegen war. Kurz gesagt: Wang and Donald hatte keine Feinde. Auch an Arbeitern bestand kein Bedarf. Wozu hätte man sonst Maschinen gebraucht? Nein, man plante vielmehr, einen Menschen von höchster Intelligenz zu erschaffen, einen Menschen, der die letzten Rätsel des Daseins zu lösen vermochte. Wie sich zeigte, lag diesem Vorhaben ein schwerer Gedankenfehler zugrunde. Die Kybernetiker mussten nämlich erkennen, dass kein Gehirn in der Lage war, ein klügeres als sich selbst zu ersinnen.

Was blieb, war die Erotikindustrie. Die Vorteile der Cybordells lagen auf der Hand. Hier gingen Träume wirklich in Erfüllung, hier wurden perfekte Partner geschaffen, aus nichts als ein paar Kilo Protoplast, lebende Männer, Frauen und Zwitter, ja selbst Tiere, deren Biomasse nach Gebrauch deanimiert und desinfiziert wurde und so dem nächsten Kunden zur Verfügung stand. Die plasmatische Liebe bot dem Überdruck einsamer Herzen ein gleichermaßen hygienisches wie würdevolles, gesundes wie befriedigendes Ventil.

Der Commander musste nicht lange warten. Von den diesmal auf Finnisch und Russisch gestotterten Dankesformeln des Persuators begleitet, trat eine graue Frauengestalt aus einer der Gedankenkammern und strebte gebeugt dem Ausgang zu. Ein kurzer Blick genügte: Benkö zuckte zusammen, riss die Schultern hoch und wandte sich ab. Anna!, schoss es ihm heiß durch den Kopf, ja, sie war es ohne Zweifel, Anna, seine Frau, nein, seine verlorene Frau ... Benkös Herz raste. Fünf Jahre lag die Trennung nun zurück, und er hatte seit damals nichts mehr von ihr gehört.

Benkö hatte Anna im Zuge eines Abendessens kennen gelernt, auf einem jener Seminare, die Wang and Donald für seine Mitarbeiter veranstaltete. Die Kurse fanden unter den Kuppeln von Limburg statt, jenes gesegneten Inselreichs im Süden der Hollandsee, und sie dienten eher ideellen als intellektuellen Zwecken. Man lag drei Tage in der Höhensonne, spielte Golf, pflegte den Gemeinschaftsgeist und kehrte für den Rest des Jahres mit dem tiefen Gefühl der Dankbarkeit an seinen Arbeitsplatz zurück.

Ein fehlerhafter Eintrag im Hauptregister hatte Benkö dem Speisesaal der höheren Chargen zugewiesen. So saß er mit fünf Controllern am Tisch, und eine davon war Anna. Controller waren den Commandern vorgesetzt und verfügten über eigene Dienstgleiter. Doch Anna ließ ihn das nicht spüren. Im Gegenteil, ihre Fragen verließen schon bald das Feld des Beruflichen und verrieten echtes Interesse an seiner Person. Benkö fand Anna hinreißend. Seine anfängliche Befangenheit wich rasch einer tiefen Bewunderung für ihren Charme, ihre Klugheit, ihre sanfte, sensible Art. Und als die vier anderen Controller mürrisch ihre Plätze räumten, um sich an die Bar zurückzuziehen, da fühlte sich Benkö wie Mister Wang und Mister Donald zusammen.

Der Rest war so profan wie zauberhaft. Sie verliebten sich ineinander. Drei Tage lang besuchten sie alle Vorträge gemeinsam, tauchten nach synthetischen Korallen und unterhielten sich im Glanz des Sternenschirms über die Wunder der Datenverarbeitung. Am letzten Abend verließen sie schweigsam den Speisesaal und fanden sich mit einem Mal im Schutz der Dünenhalden wieder. Dort liebten sie sich im warmen Granulat, gierig, mit nassen, dampfenden Körpern, sie liebten sich die ganze Nacht hindurch, bis das rötliche Flackern des ersten Sonnenstrahlers sie trennte.

Benkö ließ sich bald darauf in Annas Stadt versetzen. Sie suchten um eine gemeinsame Wohnung an und planten ihre Hochzeit. Es war schön, wenn auch nur kurz. Denn schon nach wenigen Wochen fingen die Probleme an. Annas charmante Verletzlichkeit wandelte sich in schnippische Gereiztheit. Sie schien mehr und mehr am Leben zu leiden, am Leben in ihrer Welt, ihrer Stadt, ihrem Körper. Am Leben mit ihrem künftigen Mann. Der Glanz erlosch. Die Lust gerann. Was blieb, waren chronischer Missmut und stete Erschöpfung. Eine Zeit lang versuchte Benkö, den Fehler zu ergründen, als suche er nach Annas defektem Schaltkreis.

Selbstverständlich wusste er, dass private Verbindungen zwischen verschiedenen Dienstgraden nicht gerne gesehen waren: Sie untergruben die natürliche, von hereditären und genetischen Faktoren bestimmte Hierarchie. Man munkelte sogar von einer geheimen Direktive der Konzernleitung, so genannte Cross-Links auf die alljährliche Liste der einzusparenden Mitarbeiter zu setzen. Auch wenn Gerüchte dieser Art nicht eben erfreulich waren, so dachte Benkö, blieben es doch nur Gerüchte. Unbewiesener Tratsch. Lästiger fiel ihm da schon das Verhalten der Kollegen: verstohlene Blicke hier, ein despektierliches Grinsen da. Plötzlich abgebrochene Gespräche, wenn er die Kantine betrat. Einmal sogar ein Zettel auf seinem Terminal: To link across will get you boss! Es war nicht zu übersehen, dass in seiner Etage die Missgunst regierte: Die anderen Commander konnten es nur schwer verwinden, dass einer ihresgleichen eine Controllerin an Land gezogen hatte.

Obwohl die beiden nie darüber sprachen, vermutete Benkö, dass Anna unter ähnlichen Schikanen zu leiden hatte. Nur, dass sie wohl eher der Verachtung statt dem Neid ihrer Mitarbeiter ausgesetzt war. Als er sie einmal danach gefragt hatte, war sie ihm mit einem verbitterten Achselzucken ausgewichen.

Trotzdem: Sollte die Liebe nicht schwerer wiegen als all diese Feindseligkeiten?

In gewisser Weise tat sie es. Denn als Benkö nach weiteren Wochen des Schweigens ein Ende machte und Anna verließ, da liebte er sie mehr denn je. Er liebte sie so, wie er sie errechnet hatte, so, wie sie hätte sein können, nein: wie sie hätte sein müssen. Er liebte eine andere Anna, und als die ersten Cybordells eröffnet wurden, fand er sie auch.

Schon beim ersten Versuch war sie durch Benkös Kopf gespukt, sobald er unter dem Scanner saß, und er hatte es hingenommen, dass die protoplasmatische Masse Annas Formen annahm. Lange hatte er sie nur betrachtet, ihr bläulich schimmerndes Haar, ihren schmalen, samtigen Nacken, die Elfenbeinhüften, die tiefbraunen Spitzen der Brüste. Und als er endlich zu ihr unter den Glassturz stieg, da wusste er, dass sie nach Schokolade schmecken würde. Genau das tat sie dann auch. Und mehr noch: Jede Geste ihres schlanken Körpers, jedes Wort aus ihrem dunkelroten Mund erfüllte eine tiefe Sehnsucht des Commanders. Anna erwies sich als pures Verständnis, frei von Galle und Gram und beschämenden Zweifeln. Während Benkö in ihren schwarzen Augen versank, erkannte er die wunderbare Wahrheit. Das hier, das war die echte Anna, und er selbst hatte sie neu erschaffen.

Seit damals besuchte Benkö das Scan-as-scan-can zweimal pro Woche und nie, nicht ein einziges Mal hatte er dort einem anderen Wesen Gestalt verliehen als ihr, als Anna, seiner Frau.

Commander Benkös Knie zitterten immer noch, als er die offene Schleuse der Gedankenkammer durchschritt. Leise zischten die Ventile. Dann war es finster. Im vorderen Teil des Raumes, durch ein Podest erhöht, ließen sich nur das Steuerpult und die Sitzschale des Brain Scanners wahrnehmen. Und darüber, einer stählernen Trockenhaube gleich, das Herzstück der Apparatur, der Scanner selbst. Der Commander blinzelte verwirrt. Wer war sie, die hier eben noch gesessen war? Anna, sein Traum? Anna, die Enttäuschung seines Lebens? Langsam wanderte Benkös Blick von den blinkenden Dioden nach hinten, in die Dunkelheit. Nichts war zu sehen als das sanfte Schimmern der gläsernen Kuppel, die den Stoff seiner Sehnsucht umschloss: den Protoplast, der - während der Scanner warm lief - die Gestalt verlieren, zerrinnen und verklumpen würde, um erst dann seine neue Form anzunehmen.

Der Commander überlegte, lange und zögernd. Dann aber gab er sich einen Ruck. Mit zwei, drei Schritten eilte er zum Steuerpult und drückte auf einen der Schalter. Licht flammte auf. Im gleißenden Strahl der Scheinwerfer, auf rotem Plüsch unter der gläsernen Glocke, lag jung und sehnig Annas Phantasie: der nackte, leblose Körper Commander Benkös. ...

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